Eine japanische Erfahrung
Darf ich Sie kurz gedanklich entführen in eine meine Erinnerungen aus meiner Studienzeit. Unvergessen ist mir ein Ereignis, das ich als junge Studentin in Japan erlebte. Ich arbeitete als Zimmermädchen in einem großen Hotel. In der Truppe, die fürs Housekeeping zuständig war, gab es alle Altersklassen von Zimmermädchen aber auch eine Dame, weit über 80, vermutlich sogar über 90 Jahre alt, beleibt und sehr langsam. Sie war eine gütige, freundliche Frau, die offensichtlich körperlich nicht mehr sehr leistungsfähig war, aber vom Chef immer wieder mit in die Gruppe eingeteilt wurde. Es gab auch eine Gruppenleiterin im Alter von etwa 40 Jahren und sie bestand darauf, dass wir alle unser Tempo an die alte Dame anzupassen hatten. Das hatte zur Folge, dass wir Jungen, kaum zwei Kissen überzogen und einen Abfalleimer ausgeleert, unsere Arbeit liegen zu lassen und uns wiederholt mit der alten Dame auf den Gang zu setzen, mit ihr Tee zu trinken und zu plaudern hatten. Kurz erholt und ein paar Anekdoten später, zurück zum Zimmerputzen. Aber kaum einen Arbeitsabschnitt erledigt, wurde erneut zur Pause auf dem Gang zusammen gerufen. Dieses ständig wiederholte Unterbrechen, diese enorme Langsamkeit, mit der wir in meiner Wahrnehmung kaum voran kamen, schien irgendwie nur mich zu stören. Hätten wir die Zimmer, ohne die freundliche, alte Dame gereinigt, hätten wir die Tagesaufgabe in einem Bruchteil der Zeit erledigt.
Wo, bitteschön, ist hier die Prozessoptimierung?
Ich bekam einfach mein bis dahin erlangtes Wissen aus der Betriebswirtschaft und der Japanologie, mein Wissen über KAIZEN aus der Automobilindustrie, allen voran aus dem Toyota-Konzern, diesem Streben nach der stetigen Verbesserung, der stetigen Prozessoptimierung, der Kosteneinsparung, der Bekämpfung der Verschwendung am Prozess, nicht überein mit dem, was hier geschah. Darum fragte ich auch eines Abends beim Chef des Hauses nach, was diese Vorgehensweise hier denn bedeute. Er sagte den Satz zu mir, der sich in mir eingebrannt hat für mein ganzes, weiteres Berufsleben: „Du hast offensichtlich KAIZEN immer noch nicht verstanden! Es geht im KAIZEN nicht nur um den schnellen, optimierten, verschwendungsbereinigten Prozess. Es geht um vieles, vieles mehr! Diese alte Dame war hier schon unter meinem Großvater Zimmermädchen. Sie kennt jeden Gast. Sie kennt die Kinder, die Eltern und Großeltern unserer Gäste, ihre Geschichten, ihre Vorlieben, den Verlauf aller ihrer Aufenthalte hier. Sie kennt unser Haus, unsere Geschichte, unsere Traditionen und unsere Entwicklung. Sie ist hochangesehen in unserem Haus. Sie fühlt sich uns zeit Ihres Lebens verbunden. Sie fühlt sich wertgeschätzt und ist heute noch motiviert, uns zu unterstützen. Sie teile ich immer ein, wenn die Zimmermädchen-Gruppe gut gemischt da ist, denn von unserer Identität, von unserer Strategiegeschichte, von der Entwicklung unseres Markts und des Kundenkreises, von unserer gesamten Entwicklung in der Betriebsmittel-Nutzung, bis hin zu unseren Rollen und Funktionen im Unternehmen, weiß sie alles und kann es aus ihrem Blickwinkel bewerten. Genau diese Bewertung aus ihrem Blickwinkel kann sie in der relevanten Gruppe der NachfolgerInnen weiter geben. Einen besseres Leadership als von ihr, kann ich mir gar nicht vorstellen und das ist für mich alles andere als Verschwendung, das ist für unser Haus ein unbezifferbarer Gewinn.“
Die Erkenntnis vom Kern des Ganzen
Jetzt erst verstand ich, was ich auch an anderen Arbeitsplätzen in Japan so oft ungläubig bestaunte. Fernab der Fachbücher über KAIZEN, über Prozessoptimierung, Prozess-Straffung, Prozess-Glättung, Ressourcen-Optimierung war mir hier im Ursprungsland der Kern des Ganzen klar geworden: Im Mittelpunkt des KAIZEN steht der Mensch im Gefüge der Veränderung, weil der Mensch der Treiber der Anpassung an die stetige Veränderung ist. Das System wirkt auf den Menschen und jeder einzelne Mensch wirkt auf das System. Ein systemischer Ansatz. KAIZEN ist nicht nur die isolierte Betrachtung der Prozessoptimierung. Es ist die ganzheitliche Betrachtung einer Organisation mit ihrer Identität, ihrer Strategieentwicklung, ihrem gesamten sozialen Gefüge von Struktur, Rollen, Funktionen, in dessen Mitte der Mensch, wiederum in der ihn umgebenden Gruppe, dem dort herrschenden Klima und deren Wissen die zentrale Rolle spielt. Dann erst können sinnvolle Veränderungen an Prozessen und an der Ressourcennutzung geplant und gezielt voran getrieben werden. Es braucht nicht nur den Fokus auf die Wertschöpfungskette. Ab und an braucht es das Fokussieren auf einen Punkt, dann aber auch wieder das offene Gewahrsein für alle Vorgänge im Unternehmen, denn sie hängen alle miteinander zusammen. Der isolierte Tunnelblick ohne wertschätzendes, achtsames Leadership, führt demnach selten dauerhaft zum gewünschten Ergebnis.
Fluktuation ist mir der teuerste Faktor in einer Unternehmensorganisation
KAIZEN ist die Philosophie der stetigen Veränderung zum Guten, zum Besseren. Was wir daraus übersetzt haben, ist aber nur ein Teil , der monetäre Teil davon. Leider wird im Westen häufig viel zu sehr fokussiert auf die bloße Gewinnmaximierung durch Einsparung an den Prozessen und durch Reduktion auf die absolut notwendigen Ressourcen dafür. Wesentliche Elemente des KAIZEN, nämlich zum Beispiel die unbedingt zu bewahrende Anpassungsfähigkeit an Veränderung, werden dabei sehr häufig unbeachtet gelassen. Da werden ausgeklügelte Erfassungs- und Kontroll-Boards aufgehängt, es wird auf Zahlen und Messgrößen fixiert und täglich mehrmals wird oft mit dem Tunnelblick auf das Tages- oder Monatsziel Einsparung zum Selbstzweck erhoben. Regelmäßig erleben wir in den Unternehmen und Organisationen aber gerade dadurch hohe Kosten und Aufwände für die daraus entstehenden Schäden: Demotivation, Befürchtungen und Abwehr wegen übertriebener Kontrolle, das Gefühl, als Mensch nicht gesehen zu werden, sind die Folge. Es kommt zum Verlust von innerer Beteiligung und im Gegenteil zur Verstärkung von hierarchischen Abhängigkeiten anstatt zu gemeinsame Erarbeiten von Verbesserungsmöglichkeiten von den Menschen, die direkt am Prozess stehen Hand in Hand mit den Entscheidungsberechtigten. Das sorgt für innere Kündigungen, Ausfälle, Langzeitausfällen und Fluktuation. Es kostet Zeit, Energie, Geld und Aufwand, wieder neue Mitarbeitende einzuarbeiten, Teams wieder zusammen zu schweißen, Prozesse wieder zu glätten, die Fehlerquoten niedrig zu halten bei stetigem Wechsel oder unter innerer Distanzierung. Auch andere Abteilungen sind von unnötigen „Hire-and Fire-Prozessen“ belastet. Führungskräfte tun sich dann nicht nur schwer mit einem glatten Prozessfluss, sondern auch mit Einarbeitung, Motivation, Betriebsklimaverbesserung. Fluktuation ist mit das Teuerste, was Unternehmen bezahlen. Hier liegt echtes Einsparpotential.
Genuine Kaizen ist gelebte Achtsamkeit
KAIZEN in seinem ursprünglichen Sinn stellt ganzheitliche Fragen: Sind wir authentisch im Hier und Jetzt das, was wir nach draußen vertreten wollen? Mit welchen Werten identifizieren wir uns wirklich? Leben wir die Leitsätze nach innen und außen, wie es zu uns, unserem Produkt, unserer Dienstleistung und in die Zeit passt? Wie definieren wir Gewinn in unserer Organisation? Nur monetär? Und wenn ja, haben wir dann wirklich alle kostenverursachenden Prozesse im Unternehmens- oder Organisationsgefüge auf dem Schirm? Betrachten wir nicht nur ewig und immer weiter pressend den Wertschöpfungsprozess? Geht uns auf, dass wir hunderte Millionen Nebenprozesse rund um die Wertschöpfungskette herum haben, die wir nie messen, nie beziffern und nie verbessern, weil wir so sehr fokussiert sind auf den Herstellungs- oder den Lieferprozess?
Genuine KAIZEN sorgt für ganzheitlichen Gewinn
Wenn Menschen an den Prozessen, bei Herstellung, bei Vertrieb, bei Planung, bei Beschaffung und wo auch immer in einer Organisation sich wertgeschätzt, integriert, akzeptiert, gehört und im Fokus des Tun und Treibens eines Unternehmens fühlen, wenn sie echtes Leadership erfahren, dann haben sie keinen Grund für die innere Kündigung. Sondern allen Grund, ihre Fähigkeiten, Erfahrungen und Kenntnisse motiviert einzubringen. Das sorgt für Unternehmensstabilität im Bereich Wissen, Klima, Prozessoptimierung, Authentizität gegenüber Kunden und Partnern und für noch vieles mehr. Wenn Menschen Berufung im Beruf leben dürfen, dann braucht es keine Anreizsysteme und keine Motivationstrainings. Wenn Gewinn im Unternehmen eine weitere Definition erfährt, als bloße Geldumrechnung, dann sind Führungskräfte und Mitarbeitende produktiver, motivierter, effizienter, sozialkompetenter und resilienter, vor allem: sie bleiben im Unternehmen! Innerlich und tatsächlich. Können wir uns noch etwas anders leisten?